Was ist gut am Älterwerden, Frau Keil?

Prof. Dr. Annelie Keil ist Sozial- und Gesundheitswissenschaftlerin. Die ehemalige Dekanin an der Universität Bremen hat dort den Studiengang Palliative Care mitgegründet. Sie betreibt in Bremen ehrenamtlich eine internationale Suppenküche. Auf dem Deutschen Seniorentag diskutiert sie am 25.11.2021 mit Henning Scherf über die Endlichkeit des Lebens und kleine Abschiede.
Was ist gut am Älterwerden, Annelie Keil?
Na ja, das kann man relativ einfach beantworten. Es ist gut und schwierig und schlecht am Älterwerden, was auch im Leben gut, schlecht und problematisch ist. Das ändert sich im Alter eigentlich nicht. Die ganzen Erfahrungen, die man macht, sind ja das, was das Leben verändert und damit auch das Alter. Wir kriegen das Geschenk der nackten Geburt als eine Möglichkeit. Leben müssen wir es selbst.
Was hilft Ihnen beim Älterwerden?
Na ja, schon das Wort Älterwerden ist ja in dem Zusammenhang problematisch, weil wir das ganze Leben lang älter werden. Jedes Kind hat ja Lust, älter zu werden. Es ist ein langer, langer Prozess und eben auch immer erwartet. Aber alt sein, das ist etwas anderes. Alt im Sinne der Hochaltrigkeit ist man mit 80. Spätestens dann liegt das Wesentliche hinter uns, was nicht bedeutet, das wir nicht Lust haben, auch noch 90 zu werden, wenn es denn der Körper einigermaßen erträglich macht. Und wenn die Seele nicht abstürzt, weil man das, was man bisher getan hat, nicht mehr tun kann. Also was mir geholfen hat, ist das Glück, eine Arbeit gefunden zu haben, die ich sehr geliebt habe. Zu lehren, rauszufinden, was das Leben eigentlich bedeutet, mir Ziele zu setzen, meine Arbeit einigermaßen anständig zu machen. Da, wo es geht, für Gerechtigkeit zu sorgen, Menschen zuzuhören. Und das ist auch heute noch so. Mit Beginn der Corona Krise, da hatte ich plötzlich eine schwere Arthrose entwickelt, die mich ein halbes Jahr daran hinderte, überhaupt zu schreiben oder Auto zu fahren. Zwei für mich ganz wichtige Dinge. Es ist natürlich blöd, wenn man dann mit 82 sagt, ich bin arbeitslos geworden. Natürlich habe ich meine Rente. Ich habe Projekte gemacht und ja, ich habe auch gelernt Zoom-Konferenz zu machen. Aber mein Leben lebt durch direkten Kontakt mit Menschen, weil ich zum Beispiel alleine lebe. Also rauszugehen und mit Leuten in Kontakt zu kommen, mir was auszudenken, was sie auch brauchen können: Das war die letzten anderthalb Jahre nicht möglich. Aber die Lust zu leben und das Interesse am Leben und an Leuten, das hat mir bis heute die entscheidenden Impulse gegeben.
Hat die Corona-Pandemie unseren Blick aufs Alter verändert?
Ja, sehr. Weil wir sozusagen aus der Not heraus eine Strategie für einen Umgang mit dieser Pandemie finden mussten. Ganz pragmatisch hat man die Epidemiologen zu den zentralen Wissenschaftlern gemacht. Das war auch wichtig. Und man hat in kürzester Zeit dann erst mal alles liegen gelassen, was wir übers Alter und alte Menschen erforscht haben. Das ist eine Katastrophe. Mit der Bestimmung „ab 65 seid ihr alt und werdet jetzt von uns beschützt“, hat man sozusagen einen Strich gemacht. Aber ohne diese Alten wären doch die Tafeln gar nicht denkbar gewesen. Ohne das Ehrenamt wären die Alten- und Pflegeheime nicht denkbar gewesen. Und die Kinderversorgung durch Oma und Opa nicht zu vergessen. Und schlagartig haben wir ein Bild entwickelt, dass man ab 65 ein Pflegefall ist. Es ist ein schlimmer Einbruch, der meiner Meinung nach auch schwer wieder ins Lot zu bringen ist.
Welche Lehren lassen sich denn aus der Corona-Krise ziehen?
Es fällt mir ein bisschen schwer zu sagen, was genau das Ergebnis von Corona ist. Dass die Alten zum Teil unbegleitet gestorben sind, dass ihre Angehörigen sie im Sterben höchstens eine Stunde sehen konnten – das war angesichts der Entwicklung von Palliativmedizin und Palliativ-Care in Deutschland schon ein ziemlicher Skandal. Aber: Die Politiker und Entscheiderinnen hatten eben auch große Schwierigkeiten, auf eine gemeinsame Lösung zu kommen. Dieses Virus oder das, was da jetzt passiert ist, lehrt uns, was wir bereit sind anzunehmen und in Veränderung umzusetzen. Und das ist ganz offenbar ein sehr schwieriger Prozess. Das zweite, was wir von Corona gelernt haben ist, wie wichtig es ist, dass es eine unabhängige Wissenschaft gibt. Das haben wir beim Impfstoffs gesehen. Je mehr Wissenschaft gefördert wird, desto schneller sind auch Ergebnisse da.
Wie lassen sich die Altersbilder wieder zurechtrücken?
Wir müssen das, was wir erforscht haben, verbreiten. Und alte Menschen müssen vor allen Dingen zu Wort kommen. Wir waren einfach lange unter dem Druck, diese ganze Pandemie nur medizinisch zu diskutieren. Jetzt sind wir erstaunt – und da kriege ich das Grausen – dass das ja doch seelische Folgen hat. Wir müssen in der Gerontologie konsequent bei dem bleiben, was wir begonnen haben. Und zum Thema seelische Gesundheit müssen wir mehr machen.
Interview: Valeska Zepp